Marie sieht Feuermauern. Die Fenster eines Stiegenhauses. Die halbtote Kastanie im Nebenhof bemüht sich redlich. Zwei Äste mit Blütenkronen, die aussehen wie weiße Weihnachtsbäume mit roten Kugeln in Miniaturform.
Ihr Ort der Ruhe, des Rückzug ist zum Loch der Stille geworden. Drei- oder viermal am Tag fährt ein Auto aus dem mit Teerpappe überdachten Abstellplatz. Das sieht sie nicht, hört es. Ein Stück blau, manchmal grau, manchmal weiß, über den Schornsteinen, wenn sie den Kopf weit in den Nacken legt.
Sie hat die Struktur der Mauern studiert. Es kommt ihr vor, als würden die Antworten auf ihre Anwürfe je nach Auftreffwinkel anders klingen. Die ausgebesserten Stellen, nachverputzt, tönen etwas versöhnlicher. Als hätten sie auch schon einiges mitgemacht.
Wenn sie den Kopf reckt sieht sie das Lachen aus abgeblättertem Putz. Es atmet Licht, zwinkert Marie zu, lädt sie ein. Heute. Gestern war es nicht so gut gelaunt, eher spöttisch. Schatten lassen schwarzweiße Landschaften entstehen. Wo sind wir heute?
In der Dämmerung wird alles weich und versöhnlich. Marie und das Mauergesicht prosten sich zu. Auch Tag 52 ist geschafft. Und irgendwann, dann aber wird sie die Farbdosen kaufen und diesen Mauern endlich einen Sinn geben.
(c) Veronika Litschel 2020