„Aufstehen Schlafmütze“ ruft Papa aus der Küche. Schon zum zweiten Mal. Beim ersten Mal ist Papa in Julians Zimmer gekommen und hat den Vorhang mit einem munteren „Guten Morgen, aufstehen, mein Lieber!“ geöffnet. „MMMMMH“ war Julians einzige Antwort.
Aus der Wohnküche riecht es nach Kaffee und noch etwas. Etwas Feinem. ‚Ah ja, Oma ist ja heute da‘ denkt Julian, ‚Und sie hat mir Zuckerbrot zum Frühstück versprochen, mitten unter der Woche.‘ Zuckerbrot gibt es normalerweise nur am Wochenende. Trotzdem steckt Julian den Kopf wieder unter die Decke. Er mag einfach noch nicht aufstehen und damit basta.
Schwupp, plötzlich ist die Decke weg und Papa steht grinsend vor Julians Bett. „Jetzt ist es aber höchste Zeit, hopp!“ „Du bist gemein“ mault Julian. Aber ohne die kuschelig weiche Decke gefällt es ihm nur noch halb so gut im Bett. Also schnappt er sich Teddy und wackelt verschlafen in die Küche.
„Es ist jeden Tag ein kleines Kunststück, den Burschen morgens aus den Federn zu kriegen“ beklagt sich Papa bei seiner Mama, Julians Oma. „Ach lass ihn doch, er ist doch noch ein Kind.“ Oma verteidigt Julian. Das macht sie fast immer und das findet Julian prima. „Es kann ja nicht jeder so ein Hühnermensch wie du sein“ , sagt Oma neckend zu Papa.
„Wieso ist Papa ein Hühnermensch?“ fragt Julian und gähnt zum dritten Mal. Dabei reißt er den Mund auf wie ein Löwe sein Maul. „Weil Papa am Liebsten so zeitig aufsteht, wie die Hühner“ erklärt ihm Oma. „Nämlich kurz nachdem die Sonne aufgeht. Aber du und ich, Julian, wir sind beide begeisterte „Langschläfer“ stimmt’s?“ lacht sie und zieht ihn auf ihren Schoß. „Bei den Tieren gibt es da übrigens auch große Unterschiede. Hab ich euch schon mal die Geschichte vom müden Balthasar erzählt?“ „Nein“, antwortet Julian und bekommt große glänzenden Augen. Er liebt Geschichten. „Erzähl!“ „Gut“ willigt Oma ein, „und während dessen schnabulierst du dein Frühstück, ok?“
„Eines schönen Morgens“ beginnt Oma zu erzählen „machte es „Plopp“ in einem hellen Sommerwäldchen. Ein paar Minuten später hörte man wieder ein „Plopp“ und dann noch drittes Mal. Und mit jedem „Plopp“ öffnete sich eines der kleinen Päckchen, die an einem dünnen Ast hoch oben im Lindenbaum hingen. Diese Päckchen waren eigentlich „Kokons“. So nennt man die kleine Wohnung jeder Raupe, bevor sie zu einem Schmetterling wird“ erklärt Oma und drückt Julian die Gabel in die Hand. Vor lauter Zuhören hat er ganz vergessen, sein Zuckerbrot zu essen.
Jetzt fährt Oma mit der Geschichte fort. „In ihrer kleinen Wohnung schläft also jede Raupe ein paar Wochen lang. Davor muss sie noch sehr viel essen und Kraft sammeln für ihren nächsten großen Schritt – die Verwandlung in einen Schmetterling. Sobald dieses kleine Wunder passiert ist, bricht jeder junge Schmetterling mit so einem „Plopp“ seinen Kokon auf. Danach befreit er sich daraus, weil es allmählich schon sehr eng für ihn geworden ist“ erklärt Oma, während sie Julian ein zweites Stück Zuckerbrot auf den Teller legt.
„Langsam und geduldig wälzten sich also auf unserem Lindenbaum drei Schmetterlinge durch die Wände ihrer engen Hüllen hindurch. Ein viertes Päckchen baumelte da noch. Nur hatte es bei diesem Kokon kein „Plopp“ gegeben. Die drei Neuankömmlinge waren längst ganz aus ihren Häuschen draußen. Sie hatten sich längst entfaltet und geputzt. Aber der vierte Kokon hing immer noch unverändert an dem Ast und nichts rührte sich. Gar nichts. Kein noch so feines Geräusch war da zu hören. Die drei frisch geschlüpften Schmetterlinge warteten ein Weilchen. Denn bevor ein Schmetterling zum ersten Mal fliegen kann, muss er sich noch warm zappeln und seine Flügel aufpumpen. Das kann beim ersten Mal mehrere Stunden dauern!
Dann wurde der Hunger der drei Neuankömmlinge zu groß , um noch länger zu warten. Sie flatterten los, um sich Futter zu suchen. Schließlich hatte es für sie ja schon sehr lange kein frisches Essen mehr gegeben. Außerdem war ihnen bei der Verwandlung zum Schmetterling ein langer, dünner Saugrüssel gewachsen. Und ohne, dass es ihnen jemand erklärt hätte, wussten die junge Schmetterlinge gleich ganz genau, dass sie damit den süßen Nektar aus den Blumenblüten trinken können.“ „ Das schmeckt sicher besonders gut, wenn man sich als Raupe monatelang nur von Blätter ernährt hat!“ meint Julian ein. Oma nickt und fährt mit der Geschichte fort: „Eine Stunde verging. Dann noch eine. Endlich konnte man auch beim vierten Häuschen ein leises Knacken hören. Dann geschah wieder längere Zeit gar nichts. Erst allmählich und sehr langsam wurde eine kleine Öffnung im Kokon sichtbar, an der jemand von innen werkte. Bis das Loch groß genug war, so dass der letzte Schmetterling herauskrabbeln konnte, verging noch eine ganze Weile. Da hatte jemand gar keine Eile. Aber irgendwann hatte er es auch geschafft und der kleine Balthasar war da.
Wie die anderen drei Schmetterlinge gehörte er zur Familie der Tagpfauenaugen. Sie haben 4 Flügel, zwei Oben und zwei unten an ihrem Leib. Auf jedem Flügel sind wunderschön gezeichnete runde Flecken in Gelbschwarzblau, die wie Augen aussehen.
Nun saß er also da, der kleine Balthasar und war sehr müde und erschöpft. Frühstück? Daran war überhaupt nicht zu denken! Erst wollte er sich mal von der Anstrengung erholen. Und dann war es auch so hell hier draußen. Daran mussten sich Balthasars Augen erst gewöhnen. Seine Seh-Augen natürlich, nicht die auf den Flügeln
Seine drei Kameraden hatten inzwischen schon die Umgebung erkundet und köstliches Futter auf einer Wiese voller Klee gefunden. „ Komm mit, Balthasar, wir haben tolle Blumen gefunden. Die haben in der Mitte einen Saft, der schmeckt sanft und süß, richtig lecker! Wir zeigen dir den besten Platz.“ So schnattern sie um ihn herum. Aber Balthasar hatte noch gar keinen Appetit. „Seid bitte nicht so laut“ grummelte er vor sich hin. „Ich bin noch viel zu müde zum Essen. Und zum Herumfliegen sowieso!“ „Aber Fliegen ist das Schönste, was man sich nur vorstellen kann. Schau, es geht ganz leicht“ ermunterte ihn Elfie. Sie war als erste geschlüpft an diesem Morgen und schon putzmunter. „Ja, eh, aber ich bin noch viiiel zu müde“ maulte Balthasar vor sich hin. Da flogen die anderen wieder weiter und ließen ihn sitzen….